EL URRACAÕ
SIE NANNTEN ES PARADIES
1 Das Versteck des Teufels
Vor der Bar Sport genießt Jorge ein kühles Bier in der feierlichen Ruhe des Samstagmorgens. Die Wirtschaftskrise verschont niemanden mehr, auch nicht die angesagtesten Lokale, doch diese heruntergekommene Bar hält sich noch immer. Drei Jahre sind vergangen, seit er zum ersten Mal seinen Fuß in das sogenannte Paradies setzte. Direkt aus der Favela, in der er geboren wurde, Lemos de Brito, einem Vorort von Rio, kam er mit den letzten paar Münzen, die ihm geblieben waren. Das Geld, das er in einer Zigarrenkiste unter dem Baum der Elster versteckt hatte, im "Versteck des Teufels".
Über fünfzigtausend Real. Ein Vermögen. Doch in diesem winzigen Land mitten in Europa war Jorge nur ein armer Schlucker. Denn dies ist ein Paradies nur für diejenigen, die Geld, Macht und die richtigen Kontakte haben. So blieb ihm nichts anderes übrig, als den üblichen Weg einzuschlagen, den des Verbrechens. Dank seines Talents gelang es ihm jedoch schnell, sich in bestimmte Geschäfte einzuschleichen, und nun kennt er alle verschiedenen Gruppen seiner "Branche", Kunden aller Art und natürlich die Bullen und ihre Geheimnisse. Die Politiker, die Beamten und sogar die Richter lehnen niemals einen Umschlag voller Geld ab, um ein Auge zuzudrücken. Ihm ist es egal, ob die Leute, die mit ihm Geschäfte machen, reich, mächtig, gefährlich oder gewöhnliche Menschen sind, ihm geht es nur darum, Profit zu machen. Wer Geld in der Hand hat, ist willkommen, ist sein Kunde. Von einem Freund bei der Polizei erfuhr er, dass man ihn auch hier El Urracaõ, den großen fliegenden Dieb, oder einfach nur Urra nennt. Es ist ihm egal, dass er unter strenger Überwachung steht, im Gegenteil, es macht ihn nur noch stolzer.
Sein Freund heißt Gregor Rossi und ist der Polizeichef der Stadt. Tagsüber macht er seinen Job, ist von den Leuten sehr respektiert, nachts ist er einer seiner vielen Kunden. Einer der "Skelette", wie er sie nennt, die ein geheimes Leben im dunkeln der Grube Locarno`s führen. Jorge kennt ihre schmutzigen Geschäfte gut, und sie können ihm nichts mehr anhaben, denn wenn er fällt, fällt halb Locarno mit ihm.
Das Überleben in den Favelas von Rio hat ihn zu einem echten Mann gemacht. Die Jahre im Drogengeschäft haben ihn darauf vorbereitet, ein Anführer zu sein. Die Bullen, hier, sind nur Marionetten, aufgeblasene Gockel. Die Kinder in den Favelas sind schlauer als alle Bullen in diesem Paradies. Viele von ihnen, ab sechs Jahren, verlieren jegliche Angst, indem sie als Kuriere für die Dealer arbeiten. Auch Jorge war einer von ihnen. Mit acht Jahren kannte er bereits das gesamte Labyrinth aus engen Gassen und gefährlichen, namenlosen Straßen. Er erinnert sich noch an die Gerüche des Schlamms, der zum Bau der Häuser verwendet wurde. Der saure Gestank, der in der Hitze von den Müllkippen ausging. Aber auch die Düfte des Essens, das viele Köche, mit der Geschicklichkeit echter Künstler, aus dem Nichts zauberten, um ihre Kinder zu ernähren. Denn in den Favelas werden viele geboren und viele sterben schnell, um Platz für die nächsten zu machen. Er erinnert sich an den Geruch von Reinigungsmitteln, gemischt mit Kot und Urin, die in improvisierten Rohren oder Rinnsalen flossen und sich in den Gruben um die tiefer gelegenen Häuser sammelten. Abwässer aller Art bildeten Rinnsale in den kleinen Straßen.
Die Armen in den Favelas haben kein Recht auf ein langes Leben, aber ihr Leben hat einen Preis. Ihre kurze Reise endet in den Gräbern, welche die Friedhöfe auf den Hügeln füllen. Gruben, die mehrmals ausgehoben und wiederverwendet werden, oft ohne Grabstein, ohne Kreuz. Nur der Wind, der stark und salzig vom Meer weht, pfeift die Namen der Toten herbei.
In Lemos de Brito sind die Menschen arm, aber sie lachen oft. Auch in der Not nutzen sie jede Gelegenheit zum Feiern, Tanzen und erwecken die Gitarren und Tamburine mit Leben, die man in fast jedem Haus findet. Sie genießen das Wenige an Süße, das Bitter an ihrem Schicksals anhaftet. Wer eine Arbeit hat, ist zufrieden und bemüht sich täglich nicht in die überall lauernden Fallen zu tappen. Die Glücklicheren finden einen Job in der Stadt, arbeiten als Hausangestellte in den wohlhabenden Vierteln der Mittel- oder Oberschicht, welche es sich leisten können. Oder sie arbeiten als Maurer, Tischler, Glaser, Schneider oder machen jede Art von handwerklicher Arbeit. Andere stellen Werkzeuge oder Dinge her, die zum Bau von Häusern und Hütten gebraucht werden. Berge von Ziegeln, aus Schlamm erstellt, warten darauf, die Mauern neuer Häuser zu werden, zusammen mit Bergen von Gegenständen aus Metall, Glas und anderen Materialien, die aus den Müllhalden rund um die Stadt gewonnen werden. Doch viele wenden sich dem Verbrechen zu. Sie handeln mit Drogen und Waffen, stellen oft giftigen, starken Alkohol her. In den Favelas findet man alles, auch die schlimmste Kriminalität, Söldner, die bereit sind, für ein paar Real zu töten. Denn hier ist das Verbrechen ein bösartiger Tumor und gedeiht prächtig.
Jorge wurde in einem der schlimmsten Teile der Favela geboren, im einzigen Raum dess Hauses seiner längst verstorbenen Großmutter, die an den Folgen von AIDS verstarb. Sein Vater kannte er nicht, seine Mutter hat nie seinen Namen ausgesprochen. Wie so viele alleinstehende Frauen verkaufte sie ihren Körper, um ein wenig Geld zu verdienen. Genug, um nicht alle vor Hunger sterben zu lassen.
Jorge war schlauer als seine Altersgenossen, und sie schickte ihn auf die Straße, um dort zu stehlen, wo er konnte. Er fand immer neue Tricks für seine Diebstähle und streifte oft auf dem Handwerkerplatz umher, der mit seinen portugiesischen Gebäuden viele Touristen anzog, die leicht zu bestehlen waren. Und genau dort hatte er eines Tages eine merkwürdige Begegnung, mit einem Vogel, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Ganz schwarz, aber mit weißem Bauch, weißen Flecken an den Flanken und Flügeln und einem sehr langen Schwanz. Es war eine Elster, wie ihm später der Friseur sagte, der seinen Laden auf diesem Platz hatte. Der Vogel flog tief und flog direkt an Jorge vorbei, bevor er sich auf das Dach eines alten Hauses an der Piazza setzte. Der Junge beobachtete ihn neugierig. Es schien, als würde er eine Gruppe von Touristen anvisieren, genau wie er. Er fixierte eine blonde Frau am Ende der Gruppe. Wertvolle Ohrringe glänzten in der Sonne. Jorge beobachtete sie und bereitete sich darauf vor, sie zu bestehlen. Aber auch der Vogel behielt sie im Auge. Die Blonde bemerkte die vielen elenden und hungrigen Augen nicht, die sie, auch von oben, beobachteten. Jetzt war der richtige Moment gekommen. Jorge näherte sich schnell von hinten, aber genau als er seine Hand ausstreckte, um einen der Ohrringe zu ergreifen, stürzte sich dieser verdammte Vogel vom Dach und forderte seine Beute mit einem Schrei zurück. Jorge erstarrte vor Schreck bei diesem unerwarteten Schrei. Auch die Frau erstarrte. Dann geschah alles sehr schnell. Der Vogel zielte genau auf den rechten Ohrring und riss ihn schmerzhaft aus dem Ohrläppchen, ohne seinen Flug zu unterbrechen. Niemand schien es bemerkt zu haben. Außer der Friseur, der gerade eine Zigarette vor seinem Laden rauchte. Die Touristen hingegen sahen nur Jorge mit dem immer noch erhobenen Arm und die Frau, die schrie und sich das blutende Ohr hielt. Jorge starrte dem wegflliegenden Vogel nach. Für die Touristen war alles klar: Sie umzingelten das schmutzige, zerlumpte Kind mit den dunklen, schlauen Augen. Die Frau schien verrückt zu werden und wollte ihn ergreifen, schrie "Dieb, Mistkerl, haltet ihn auf!" Jorge hingegen sah sie unschuldig an, gelähmt vor Gefahr. Dann hörte er die Stimme des Friseurs, der schrie: "Kleiner, renn weg!" Da drehte er sich abrupt um und rannte eine der vielen Gassen entlang, die auf den Platz mündeten. Genau dort, wo er die Elster mit ihrer Beute im Schnabel hatte verschwinden sehen. Er konnte sie immer noch oben sehen, aber jetzt musste er nur noch ans Verstecken denken. Er sah sich um, hörte die Touristen weiter schreien: "Stoppt ihn, haltet diesen Mistkerl auf, stoppt ihn!" Dann verlor er den schlaueren Vogel aus den Augen. Der Friseur, der an der Tür seines Ladens stand, rauchte und genoss die Show.
Am nächsten Tag stahl Jorge zwei Radios und einige glänzende Gegenstände: Glasperlen, Angelköder. Der Friseur hatte ihm erklärt, dass dieser Vogel, die Elster, genau deshalb so genannt wird, weil er die Dinge stiehlt, die glänzen. Und so beschloss er, sie zu überlisten. Sein Freund Raffaele, der einverstanden war, setzte sich an einen Tisch auf dem Handwerkerplatz und verteilte vor sich all die gestohlenen Sachen. Als ob sie einen Ruf gehört hätte, kehrte die Elster zurück und setzte sich gemütlich auf das Dach des gleichen Hauses. Sie hatte bereits ausgespäht, was sie heute stehlen könnte. Sie fixierte die Glaskugeln und die Köder. Jorge stellte sich vor, dass die Lichtreflexe auf der Oberfläche dieser Gegenstände sehr attraktiv für sie sein mussten. Jorge signalisierte seinem Freund, sich zu bewegen, so ließ dieser den Tisch frei, um die Elster zu ermutigen, näher zu kommen. Gleichzeitig stand er bereit, ihr zu folgen. Dieser Vogel war schlau, aber Jorge war noch schlauer. Wie erwartet, stürzte sich die Elster wie ein Kamikaze auf den Tisch. Sie schnappte sich blitzschnell eine der Glaskugeln und stahl sich sofort in die gleiche Richtung wie beim ersten Mal fort. Jorge sah sie über die Dächer fliegen und konnte Ihr eine Weile folgen. Dann verlor er sie aus den Augen. Aber innerhalb weniger Minuten kehrte der fliegende Dieb zurück. Jorge wusste, dass eine solch reiche Beute sie anziehen würde. Dieses Mal schnappte sich die Elster einen Köder, und Jorge versuchte erneut, ihr zu folgen, wurde aber sofort von einem im Weg stehenden Auto blockiert und verlor sie erneut aus den Augen. Fünf Minuten später war die Elster bereits wieder da. Aber dieses Mal, fast bevor sie zwei Köder vom Tisch stehlen konnte, rannte Jorge schon hinter ihr her, so schnell er konnte. Jetzt konnte er sie deutlich sehen und würde sie nicht entwischen lassen. Er rannte lange Zeit, schwitzend in der heißen Luft, unter einer erbarmungslosen Sonne, und schließlich sah er sie verschwinden in dem, was wie eine Art Wald aussah.
Jorge kannte diesen Ort, sie nannten ihn das "Versteck des Teufels". Eine kleine grüne Insel im Herzen der Favela Moro do Fubá, ein Gebiet, das in den letzten Jahren aus dem Wald gerissen wurde und sich schnell mit illegalen Häusern und Hütten füllte. Das Versteck war ein Gewirr aus Bäumen und Sträuchern, die undurchdringlich schienen, man konnte keinen Weg zwischen den Pflanzen erkennen.
Aufgrund einiger seltsamer Überzeugungen hatte niemand dieses Stück Wald betreten. Die Bewohner der umliegenden Häuser waren tatsächlich von einigen seltsamen Vorfällen so verängstigt worden, dass sie überzeugt waren, dass der Teufel höchstpersönlich dort drin lebte. Mehr als einmal waren Amulette und Kreuze, die an den Fenstern von alten und kranken Menschen angebracht waren, um sie vor bösen Geistern zu schützen, mysteriös verschwunden. Dann starben diese Armen vielleicht zufällig in der folgenden Nacht, und die Leute begannen sich zu erinnern, dass sie einen schwarzen Vogel gesehen hatten, der aus diesem Gebüsch rein und heraus flog. Er wurde in der Nähe der Häuser der Kranken gesehen, kurz bevor die Amulette verschwanden. Sie wussten nicht, dass es sich einfach um eine Elster handelte, die während der Paarungszeit unwiderstehlich von diesen vom Sonnenlicht beleuchteten Objekten angezogen wurde. Sicherlich aber befeuerten ihre schwarzen Federn ihren Aberglauben. So begannen sie zu sagen, dass es sich um den Teufel handeln müsse, der tagsüber in Gestalt dieses Vogels umherflog, um sich in der Nacht ein Opfer zu suchen, dem er die Seele stehlen könne. In kürzester Zeit wurde die grüne Insel zum "Versteck des Teufels". Viele brachten alte und kranke Menschen in andere weit entfernte Vororte, in Sicherheit zu Familienmitgliedern oder Freunden. Und diejenigen, die nicht gehen konnten, schützten sich, so gut sie konnten, vielleicht indem sie einfach die Amulette und Kreuze mit einem Nagel an die Fensterbänke nagelten.
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